Jack strich um die Ecke, wo die Zamenhofstraat einen scharfen Rechtsknick macht. Rechts pufften die Schornsteine des Chemiewerks Albemarle ihren Dampf in den diesigen Amsterdamer Abendhimmel. Links ging es in den Vliegenbos, ein wild anmutendes Stück Waldnatur im nördlichen Amsterdam. Hier tummeln sich fabelhafte Wesen, und es ist keine Übertreibung, dass der Seelenwanderer hier Artgenossen und Nicht-Artgenossen findet, leuchtende und glühende Menschenwesen, manche die heilen und andere, die es umtreibt. Gauner, Straßenräuber, Magier, manche in prachtvollem Zwirn, in weiten samtenen Plunderhosen, oder andere in Lumpen aus allerlei Stoffen, laufen einem über den Weg, als seien aus dem Amsterdam des 13. Jahrhunderts entsprungen. Damals war Amsterdam nur eine Siedlung entlang des Deiches zwischen der Amstel und dem Festland und fing gerade an, Steuern von den vorbeifahrenden Booten zu erheben. Bevor sich das Fleckchen zum Welthandelszentrum aufschwang und sich eine der Zollerhebung entstammende Regelwut ausbreitete, die alles und jeden mit Abgaben, Profit, Umsatz und Erlaubnissen beziehungsweise Verboten bedachte, lange davor und lange danach blieb der Vliegenbos eine kosmische Wildnis, in der Wesen wandeln, die so ganz anders sind.
Jack bog also um die Ecke nach links, folgte nicht der Zamenhofstraat, sondern ging in den Vliegenbos hinein. Und dann sah er ihn.
Ein Indianer saß im Schneidersitz mit dem Rücken zu Jack am Rand des Waldpfades. Er saß im Halbschatten auf dem rissigen Waldweg, der zwischen Schrebergartensiedlung und Waldrand hoch zur Bredero Berufsschule führte. Sägespäne und Sägemehl bedeckten den fleckigen, alten Asphalt. Zersägte Baumstämme waren ein paar Meter weiter aufgestapelt. Drei bunte Papageienfedern krönten sein glänzendes langes, schwarzes Haar. Es war zu einem Zopf gebunden, der unter dem Poncho verschwand, welcher seine Schultern umhüllte; ein grau-weißer Poncho, auf dem schwarze Muster eingewebt waren, darin Muster und Linien wie eine alte Sprache. Sein Rücken war ganz gerade und doch völlig entspannt. Als wachse er aus der Walderde nach oben, als ziehe ihn alles hoch in die Kronen der Bäume hinein. Das Licht um ihn wirkte diesig. Eine Aura aus leichter, satter, und irgendwie doch nebliger Luft wie aus einem Traum, wie eine Schimäre, die der Phantasie entspringt und einen versonnen anblinzelt. Jack blinzelte zurück, und obwohl er gar nicht in seine Richtung schaute, schien der Indianer Jack irgendwie zu sehen. Jack fühlte das und ging baff weiter, bog rechts ab, wollte tiefer in den Wald hineingehen. Doch es zog ihn zurück. Er konnte nicht weitergehen, musste zurück und genauer hinschauen. Irgendwie… oder doch?
Es traf ihn wie ein Schlag. Hatte er ihn nicht unzählige Male gesehen? Auf alten vergilbten Fotos am Fuße der Berge, in Daguerotypen aus dem neumexikanischen Wilden Westen. Geronimo. Ein Krieger, der sein Wort nicht bricht. Entweder kommt er dich besuchen, oder töten. Manche Dinge lassen sich nicht vorherplanen. Oder war er vielleicht ein Sohn Geronimos. Auf jeden Fall nicht der typische Waldbewohner im Vliegenbos im Norden von Amsterdam, obwohl der Wald immer wieder merkwürdige Gestalten beherbergt.
-Hallo!
-Hallo selber. Selber Hallo!
Er lächelte Jack an und sagte weiter nichts. Jack sah ihn nochmals genauer an und merkte, dass er doch nicht genauso wie Geronimo aussah. Seine Gesichtszüge waren feiner als das breite Gesicht des Apachen-Führers. Er war deutlich jünger als die Fotos, die er von Geronimo in Erinnerung hatte. Im Nussbraun seines wachen Antlitzes spürte Jack mehr Grün als im gelb-braunen Neumexiko. Amazonasgrün und Flusswogen, riesige Spinnennetze und endloses grünes Geflecht…grün, grün, grün, was nutzt es immer nur “grün” zu sagen, dachte er. Er meinte tausend Spielarten von grün in der Sonne, im Dunkeln, im Schatten, in der Nacht, in der Dämmerung. Und die drei langen Papageienfedern, die seinen Kopf krönten, schillerten in allen Farben des Regenbogens.
Jack fragte ihn
– Woher kommst Du eigentlich?
– Ich komme aus Kolumbien. Aus dem Regenwaldgebiet in Kolumbien. Vor vielen Jahren bin ich nach Europa gekommen. Dies ist mein Lieblingsort in der Stadt. Hierher komme ich, um ganz bei mir und der Natur zu sein.
– Hier an der Grenze zwischen Stadt und Wald! Ich meine, hier ist doch die Chemiefabrik noch so laut. Warum sitzt du nicht tiefer drinnen im Wald?
Geronimo lächelte Jack interessiert an und erwiderte ohne eine Spur von Überheblichkeit
-Sollte ich das? Nein, ich mag es hier. Bis vor ein paar Minuten saß ich direkt in der Sonne. Sie schien direkt auf mich drauf.
Die letzten Strahlen der Sonne fielen auf sein Gesicht. Jack sagte
-Ich würde mich da komisch fühlen, einfach am Wegrand auf dem Boden zu sitzen, da wo Leute vorbeilaufen.
– Warum komisch, was denkst du denn dann?
– Das die Leute mich bewerten, für anders halten.
– Ist das wichtig, was die Leute denken? fragte er.
– Nein, eigentlich nicht.
– Also, wer bewertet dann wen, wer bewertet dich eigentlich?
Jack hatte einen Geistesblitz.
– Ich mich selbst. Ich bin es, der bewertet. Es geht nur um mich.
– Genau. Du bist es. Und dann ist alles in Ordnung. DU kannst tun, was DIR guttut. Fühle einmal hier, aus der Erde kommt Kraft. Aus dem Himmel kommt Schöpfung. Vater oben, Mutter unten. Beide verbinden sich. Mit unserer Dreifaltigkeit können wir sie spüren. Willst du mal probieren?
Der Indianer schaute Jack fragend an. Das beruhigte Jack, und er stimmte zu. Er schlug vor, sich auf die zersägten Baumstämme zu setzen, wo die Sonne noch hinschien. Sie setzten sich darauf und führten ihr Gespräch fort.
– Schau mal, der große Geist gibt uns zwei Nasenlöcher und einen Mund. Drei. Zwei Nieren und eine Blase mit Harnleiter. Drei. Zwei Eier und ein Geschlecht. Drei. Zwei Lungen und eine Luftröhre. Drei. Zwei Augen im Gesicht und ein inneres Auge. Drei.
– Drei, bedeutet das immer Organe, oder was meinst Du?
– Auch, aber nicht nur. Zwei Augen schaffen eine dritte Dimension, mit der wir räumlich sehen können. Zwei entgegengesetzte Pole schaffen einen stabilen Kern, der unsere Mutter trägt. Zwei Hände, die tasten, schaffen ein Gefühl, das wir spüren. Zwei Ohren, die hören, vermitteln uns ein Wissen vom Geräusch. Hörst du den Vogel da hinten im Wald. Er ruft seine Artgenossen, dass sie sich bei ihm versammeln, den es wird Zeit, in den Süden zu fliegen, der Winter kommt. Die Zugvögel orientieren sich mit dem Magnetsinn. Sie verbinden Eins und Zwei und schaffen Drei!
Jack hörte nur mit halbem Ohr zu. Eine Stimme in ihm sagte: “Das ist unglaublich. Ich wandle in einem Wachtraum. Geronimo, oder auf jeden Fall ein Indianer, ein Schamane sitzt hier im Amsterdamer Stadtwald. Was passiert hier?” Sein kalkulierender Geist tat das Gerede des Indianers ab. Was sollte das mit der Drei? Wohin führte das Ganze? Zu seinem inneren Dialog gesellte sich ein Geräusch von außen. Ein lautes, hohes, forderndes Piepsen.
Etwa dreißig Schritte weiter im Wald saß eine Gruppe Rauchschwalben in der Krone einer Buche und führte eine heftige Diskussion. Es piepste und schallte aus dem Baum heraus. Wie aus dem Nichts landete ein Dutzend weiterer Vögel im Baum. Es wurde lauter. Schon kreiste eine weitere Gruppe um den Baum herum und wurde vom Geflecht der Äste und Blätter verschluckt. Es wurde noch lauter. Weiter Kleingruppen von Rauchschwalben erreichten den Baum unablässig und das Piepsen wurde zu einem bedrohlichen Tosen. Jack schaute einfach nur mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen zu. Als der Baum fast zu platzen schien erhob sich auf einmal ein Sturm. Eine Wolke von Vögeln erhob sich in die Luft. Der Himmel über dem Baum wurde schwarz, schrill und laut. Und plötzlich war es ruhig und sie waren weg.
– Hast du sie gesehen, wirklich gesehen, fragte Geronimo. Die Vögel fliegen jetzt weiter…in den Süden…auf den Kontinent, den die Europäer Afrika genannt haben. So wie sie unsere Muttererde Amerika und uns Indianer nannten. Für die Vögel von gerade sind diese Bezeichnungen unwichtig. Sie spüren Nord und Süd und schaffen Drei – ihren Ortssinn. Das bedeutet für sie Wärme, Nester, Nahrung – Leben! Atme mit mir. Durch den Mund ein, sauge die Energie der Mutter nach oben, durch die Nase aus, lass sie frei zum Vater. Jetzt durch die Nase ein, die Energie des Vaters von oben, durch den Mund aus, zur Mutter nach unten… #
Auf Geronimos Gesicht zeichnete sich ein tiefer Schmerz ab. Er sah aus als hätte er alles verloren. Die positive Energie, die er noch vor ein paar Minuten ausgestrahlt hatte, war von einem Schmerz verschluckt worden. Jack fing an, für ihn zu atmen. Er spürte, wie sich Kraft in jeder Zelle seines Körpers ausbreitete. Zwei Nasenlöcher, ein Geist, zwei Geister eine Kraft…ein und aus, ein und aus…Seine Atemzüge wurden länger, leichter und regelmäßiger. Sie schienen den Krieger aufzurichten.
Während der Häuptlingssohn und Krieger neben Jack sich aufrichtete, gen Himmel, beugte sich Jack Stück für Stück gen Erde. Mit jedem Ausatmen durch den Mund näherte der sich der Erde, Wirbel für Wirbel voll gelassener Demut. Als er seinen Kopf nach unten baumeln ließ, entdeckte er einen zerknitterten Zettel. Er war aus Geronimos Tasche gefallen. Darauf stand “Entlassungsbescheinigung des psychatrischen Instituts der Allgemeinen Kliniken von Amsterdam.” Der Name des Patienten war unleserlich. Geronimo atmete mit geschlossenen Augen weiter. Eine leichte Brise kam auf und wehte den Zettel fort. Geronimo saß nun wieder ganz entspannt da.
Jack stand auf und zog weiter. Als der sich umgedreht hatte löste die Gestalt des Indianers sich auf und aus ihr sprang ein Panther hervor. Das schöne Tier sprang vom Baumstamm auf und gesellte sich zu Jack. Aufmerksam und doch gelassen strich das Raubtier neben ihm her und gab Jack einen riesen Platz zum träumerischen Schauen an seiner Seite frei. Die Abendsonne streichelte die hohen Baumwipfel, warf ein sanftes Lichtspiel auf den Waldpfad. Alles verlockte zum Weitergehen.
…